Zigo-gol
„Wäre es nach mir gegangen, hätte ich eine Stadt wie Verona niemals verlassen.“
Die Spieler der Meistermannschaft von Hellas Verona aus dem Jahre 1985 sind heute unsterblich für die tifosi der Gialloblù. Selbst kleine Fans im Kindesalter kennen die Namen der Helden von damals, wenngleich sie erst viele Jahre nach dem Scudetto das Licht der Welt erblickt haben: Preben, Briegel, Fanna, Bagnoli. Und so weiter.
Doch es gibt noch einen anderen Spieler, der auch ohne Titelgewinn in der Sphäre jener Legenden zuhause ist. Einer, der eine ganz besondere Verbindung zu Verein und Stadt hat; der mal zu Protokoll gab, dass er im Bentegodi, auf dem Platz, seine ewige Ruhe finden wolle. Die Rede ist von Gianfranco Zigoni, seines Zeichens einer der Popstars des italienischen Fußballs der 70er Jahre. Neben dem Fußball zählten überdies Alkohol, Frauen und schnelle Autos zu seinen Vorlieben – und Zigo-gol tat auf und neben dem Platz alles in seiner Macht mögliche, um diese Vorurteile zu bestätigen.
Geboren im Jahre 1944 im schönen Veneto, in der Provinz Treviso, genauer gesagt: in Oderzo; wechselte Zigoni bereits im zarten Alter von 17 Jahren von Pordenone zu Juventus. Pordenone war damals ein sogenannter „Satellitenklub“ von Juventus, der Weggang des begabten Jungspunds nach Turin war daher Formsache. Bereits im Jahre seines Wechsels zur Vecchia Signora durfte Zigoni sein Serie A-Debüt feiern – allerdings sollten lediglich noch drei weitere Einsätze für Juventus folgen. Vorerst.
1964 geht es für Zigoni per Leihe nach Ligurien: Genoa CFC heißt die nächste Destination, wo der inzwischen 20-jährige endgültig im Profifußball „ankommen“ will.
Zigoni entwickelt sich zum Stammspieler, erzielt acht Treffer in 24 Ligapartien – doch Genoa steigt trotzdem ab. Der Offensivmann tritt den Weg mit in die Zweitklassigkeit an, mit der Hoffnung auf den direkten Wiederaufstieg – der letztendlich aber nicht klappt. Er kehrt zurück zu Juventus, agiert als erweiterter Stammspieler, der mit
acht Treffern in 23 Partien Teil der Meistermannschaft 1967 ist und folgerichtig im selben Jahr erstmals für die Nationalmannschaft nominiert und eingesetzt wird, im Rahmen eines 1-0 Sieges in der Qualifikation für die EM 1968 in Bukarest gegen Rumänien. Es sollte Zigonis einzige Partie für sein Heimatland bleiben.
In den Folgejahren fasst Zigoni nicht wirklich Fuß in Turin. Sein Temperament macht ihm häufig Probleme, so muss Zigoni des Öfteren aufgrund diverser Sperren zuschauen. Nach 82 Einsätzen und 22 Treffern zwischen 1966 und 1970 für die Bianconeri verlässt Zigoni schlussendlich das Piemont, um sich der Roma des legendären Coaches Helenio Herrera anzuschließen. Hier hat Zigoni mäßigen Erfolg, auch die Roma kann nicht an die Erfolge vergangener Jahre anknüpfen, wenngleich Zigoni immerhin mit einem Finaltreffer im Rahmen der Coppa Anglo-Italiana dazu beiträgt, dass die Römer im Jahre 1972 gegen Blackpool jenen Titel nach Hause holen können.
Im Sommer 1972 verlässt der inzwischen 28-jährige Zigoni Rom gen Norden: Es geht zurück in Heimatnähe, ins Veneto – allerdings nicht in die Provinz Treviso, sondern vielmehr in die Provinz Verona. Ein Wechsel, der Zigonis Karriere prägen sollte wie wohl kein anderer. Und ebenso ein Wechsel, der auch die folgenden sechs Jahre von Hellas Verona entscheidend prägen würde.
Der 1,76 m große Flügelflitzer spielt in Verona ausschließlich auf dem linken Flügel bzw. als linker Stürmer, obwohl er in den Jahren zuvor oftmals auch als zentraler Offensivmann im Mittelfeld im Einsatz war.
Zigoni ist trickreich, dribbelstark, extravagant. Er hat das gewisse „Flair“. Ein „wahrhaftiger Rockstar“, wie er später mal betitelt werden sollte, nicht nur aufgrund seiner Vorlieben abseits des Platzes – und auch nicht aufgrund seiner Mähne, die zeitweise sehr an jene des nordirischen Rockstars George Best in Manchester erinnerte.
Es ist gut möglich, dass Zigonis Talent seinen Ehrgeiz um ein Vielfaches überstieg. Nein, eigentlich nicht nur „gut möglich“, vielmehr: Es ist ein gesicherter Fakt.
Seine Leidenschaften abseits des Platzes lenken den extravaganten Akteur oft ab, dennoch gibt Zigoni immer alles für die Gialloblù, sobald er auf dem Spielfeld steht.
In 21 Partien in der Saison 1972-73 erzielt Zigoni sieben Treffer, in der Folgesaison hat er dann mit kleineren Blessuren zu kämpfen und kommt in 15 Partien mit vier Treffern zum Einsatz.
In jener Saison verfestigt sich die Legende von Zigo-gol in Verona dennoch umso mehr. Der Mythos Zigoni entsteht und er wird letztendlich unsterblich in Verona. Als Teil jener Mannschaft, die für das unglaubliche Fatal Verona verantwortlich sein sollte – also für den Ursprung des sagenumworbenen Fluches für die AC Milan, welcher das Bentegodi immer wieder als uneinnehmbar für die Milanisti erschienen ließ.
Fatal Verona: Unbestritten ist dieser Ausdruck eng und unumkehrbar mit Zigoni verbunden. Es ist der 20. Mai 1973, der letzte Spieltag der Serie A-Saison 1972-73, als der bisherige Tabellenführer Milan ins Bentegodi nach Verona kommt. Die Rossoneri haben zu jenem Zeitpunkt einen Punkt Vorsprung auf Juventus, den Ex-Verein von Zigoni, sowie auf die Laziali. Während die Römer in Napoli patzen, kann Juventus das Spiel in letzter Sekunde bei der Roma noch drehen – doch die entscheidende Schützenhilfe kommt von Hellas Verona.
Das heißt: Verona zerstört den vermeintlichen Titelgewinner nach allen Regeln der Kunst. Nach gerade einmal 29 Minuten führen die Mastini bereits mit 3-0, das Team von Coach Cesare Maldini ist am Boden – Milan ist auch mit dem 5-1 in Minute 72 sehr gut bedient, der Rückstand könnte viel höher sein. Letztendlich schafft es Milan noch auf 5-3 zu verkürzen, allerdings erst kurz vor Spielende, als die Gialloblù schon im Feiermodus sind. Für Milan geht der sicher geglaubte Scudetto flöten, man wird auch in den folgenden sechs Jahren keinen Meistertitel holen können.
Zigoni brilliert in diesem Spiel. Es ist „sein“ Spiel, es ist die große Bühne des Rockstars. Motiviert von den Massen an Milanisti, die den Weg nach Verona angetreten hatten und das Bentegodi in ein rot-schwarzes Meer verwandelten, verkündet Zigoni vor Anpfiff seinen Mitspielern: „Das verlieren wir heute nicht. Das ist sicher!“ Und er behält recht, ist mit einer herausragenden Vorlage an der frühen Fürung durch Paolo Sirena beteiligt und auch die weiteren Offensivaktionen gehen allesamt über den begnadeten Zigoni.
Fatal Verona wird ungemein zur Legendenbildung um Zigoni beitragen, noch heute ist es eine der Partien der Veroneser Vereinsgeschichte.
In der Folgesaison 1973-74 sichert sich Verona dann einmal mehr sportlich den Klassenerhalt, muss allerdings im Rahmen des scandalo della telefonata als Tabellenletzter zwangsabsteigen.
Der inzwischen 30-jährige Zigoni bleibt den Gialloblù treu, sorgt als wichtigster Akteur für den sofortigen Wiederaufstieg und führt die Veroneser nach erfolgtem Wiederaufstieg im Jahre 1976 sogar ins Finale der Coppa Italia – dem geneigten Leser von mentalitacalcio wird vielleicht noch in Erinnerung sein, dass Verona in jenen Finals der Coppa leider nie mit Glück gesegnet war, so auch nicht in diesem Jahr 1976 gegen Napoli.
In jener Saison entsteht auch eines der legendärsten Bilder von Zigoni: Der damalige Veroneser Coach Ferruccio Valcareggi („Zio Uccio„), zuvor langjähriger Coach der Squadra Azzurra und verantwortlich für je einen EM- und WM-Titel, setzt Zigoni auf die Bank – der extravagante Star weigert sich zwar nicht, sich auf die Auswechselbank zu setzen, doch nimmt er diese „Auszeit“ zum Anlass, in seinem legendären Pelzmantel mitsamt dem passenden Hut auf der Ersatzbank der Scaligeri zu erscheinen. „Es war ein Wolfspelz, ein reicher Fan hatte mir den geschenkt. Valcareggi hatte beschlossen, mich auf die Bank zu setzen – ich verspach ihm, dass er etwas sehen würde, was noch nie jemand in einem Stadion gesehen hatte…“
Zigoni wirbelt auch noch die nächsten beiden Saisons für die Veroneser, allerdings zeigt sich in der Saison 1977-78, dass es altersbedingt leistungstechnisch schwerer für das verrückte Genie wird.
Folgerichtig wechselt Zigoni 1978 in die Serie B nach Brescia, er muss den Verona verlassen. Insgesamt streifte sich Zigoni während seiner Karriere in 159 Spielen das Trikot der Gialloblù über, erzielt dabei 33 Treffer und setzt unzählige Glanzpunkte auf dem Platz des Bentegodi – sowie daneben. In jedem einzelnen dieser Spiele stellte Zigoni seine aufrichtige und tiefe Verbundenheit mit den Scaligeri unter Beweis, ihn verband ein einzigartiges Band mit den tifosi der Veroneser. Dabei besticht seine Karriere nicht durch herausragende Torquoten, vielmehr verstand es der Offensivmann wie kein anderer, seinen Nebenmännern Räume zu schaffen und so für Erfolge auf dem Platz zu sorgen.
Dieses besondere Band mit Hellas Verona stellt Zigoni nochmals im Jahr 1980 unter Beweis. Inzwischen ist Verona in die Serie B abgestiegen, spielt mit seinem neuen Klub Brescia in einer Liga. Zigoni soll an jenem 18. Mai 1980 für seinen Verein Brescia gegen Verona auf dem Platz stehen – doch er weigert sich. In einem Interview viele Jahre später bestätigte er die Legende: „Ich habe sechs Jahre für Hellas Verona gespielt, das war mein Zuhause. Klar, ich war glücklich in Brescia – aber ich konnte nicht gegen mein „Zuhause“ spielen. Du würdest deiner Mutter ja auch keine Ohrfeige geben…“
In der Retroperspektive sieht sich Zigoni ohnehin nicht als „wirklicher“ Profi, wie er im gleichen Interview zu Protokoll gab: „Ich habe nur Fußball gespielt. Das hat mir gar nicht so viel Spaß gemacht, aber ich war einfach gut darin.“ Und das trotz seines Lebensstilles fernab des Platzes: 40 Zigaretten habe er teilweise täglich geraucht, viel Whisky getrunken. So die Legenden, die er immer wieder bestätigte. Die Öffentlichkeit sah ihn als „wahren Rebellen des italienischen Fußballs.“ Und so sah er sich auch selbst: „Ich war schon immer ein bisschen ein Anarchist. Ich mag weder das System „Fußball“, noch die Regierungen der Welt. Oft wurde ich gesperrt, weil ich mich nach den Spielen noch mit den Schiedsrichtern anlegte…“
Überliefert ist auch sein Traum, auf dem Feld des Bentegodi sterben zu wollen – und nur allzu gerne hätte er dann auch das Bentegodi nach ihm benannt: „…auch wenn sie es schon zu meinen Lebzeiten nach mir hätten benennen können.“
Zigoni stellte stets seine individuelle Freiheit über die Opfer, die ein professioneller Fußballer eigentlich bringen sollte. Lieber hätte er laut eigener Aussage noch viel mehr Abende mit Freunden verbracht, dabei gegessen und getrunken soviel und was er wollte – wenngleich er das größtenteils auch so tat, im Rahmen des Möglichen.
Eine Anekdote, die sein Genie beschreibt, ist jene aus einem Freundschaftsspiel gegen den Rivalen aus Vicenza. Zigoni zeigte eine eher lustlose Darbietung, bis er zwanzig Minuten vor Schluss die halbe Mannschaft der Vicentiner mit einem Dribbling stehen ließ und den Ball ins obere Eck knallte – daraufhin verließ er den Platz und ging wortlos in die Umkleidekabine.
Es sind Anekdoten wie diese, die Zigoni in der Vereinsgeschichte von Hellas Verona (und in der Stadt Verona) zu einem unsterblichen Akteur gemacht haben.
Zigoni hat neben der Leidenschaft für Hellas Verona übrigens noch eine weitere: Er bewundert Rayo Vallecano, eine Mannschaft, so eigen und verrückt wie der „Rockstar“ selbst. Sehr passend.
Einmal wurde Gianfranco Zigoni, der heute wieder in der Provinz Treviso lebt, gefragt, wie er den Menschen in Erinnerung bleiben wolle. Er antwortete: „Als ein ehrlicher Mensch.“
Und in Verona wird er zudem offensichtlich per sempre als Zigo-gol in Erinnerung bleiben, wie zahlreiche Gesänge und Banner während eines jeden Spiels im Bentegodi immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen….