quasi la morte

Der 34. Spieltag der Serie A steht an, unter anderem besuchen die Bianconeri aus La Spezia die Gialloblu aus Verona in deren Wohnzimmer, dem Bentegodi.
Leider findet dieses Spiel coronabedingt ohne die berüchtigte Veroneser curva sud statt, doch auch so birgt das Spiel dieses gewisse Etwas, diese kleine Extra-Prise Salz, die ein Spiel für ein Fanlager, in diesem Falle für die Veroneser Fans, so besonders macht.
Denn während es für die Ligurier immer noch um den Klassenerhalt geht, scheint es für Verona offensichtlich nur noch um die goldene Ananas zu gehen – vermeintlich, denn jeder Veroneser tifoso will in Spielen gegen Spezia das verführerische Gefühl der süßen Rache und Befriedigung verspüren.

Der Gegner aus der ligurischen Küstenstadt war letztendlich (mit-)verantwortlich für einen der absoluten Tiefpunkte in Hellas Veronas ereignisreicher 118-jähriger Vereinsgeschichte: Am Ende der Saison 2006-07 schickten die Bianconeri die Gialloblu in den Play-Outs in den Abstieg – und nein, nicht etwa in die Serie B; der stolze Verein aus dem Veneto musste nach mehreren Jahrzehnten das erste Mal wieder in die Serie C absteigen. 
Während der belächelte (Vor-)Stadtrivale aus Chievo also um die Plätze in der Serie A kämpfte, spielte der Traditionsverein, der eigentliche Stadtverein, nur noch drittklassig. Ein Schlag ins Gesicht für die Scaligeri.

Im Juni 2007 hat Hellas Verona eine katastrophale Saison letztendlich glimpflich beenden können. Glimpflich – das heißt, man ist in letzter Sekunde einem direkten Abstiegsplatz entkommen: In der vielleicht stärksten Serie B der vergangenen Jahrzehnte, mit den letztendlichen Aufsteigern Juventus, Napoli und Genoa; war für die Veroneser bis zum Ende beinahe noch alles möglich – von Platz 11 bis zum direkten Abstieg, welchen man zunächst auch vermeiden konnte.

Doch um tatsächlich zu überleben, mussten die Mastini noch in Hin- und Rückspiel gegen Spezia bestehen. 
Ein gnadenloser (oder gnadenvoller) Modus, bei welchem einer der beiden zusätzlichen Abstiegskandidaten den Aufprall auf den harten Boden der Drittklassigkeit immerhin noch einmal verhindern kann. Zumindest in der Theorie so auch Verona, doch die Realität sollte Hellas dafür umso härter treffen.

Trainer Gian Piero Ventura, später Nationaltrainer Italiens mit überschaubarem Erfolg, und das Team um Nicola Corrent, dem heutigen Coach der Primavera-Mannschaft der Veroneser, sowie um die Vereinslegende Alessandro Mazzola, fast ein Jahrzehnt ein wichtiger Bestandteil im Mittelfeld der Gialloblu, mussten als 18. der regulären Saison also noch zweimal gegen den 19. der abgelaufenen Spielzeit antreten: Spezia Calcio.

Der 15. Juni 2007 führte die Mastini so folgerichtig in die ligurische Küstenstadt, mit der besseren Ligaplatzierung im Rücken und dem damit verbundenen Vorteil bei einem möglichen „Unentschieden“ nach jenen zwei Partien.

Und für Verona lief zunächst alles nach Plan: Bereits nach 23 Minuten konnte Innenverteidiger Lorenzo Sibilano, in der letzten Saison übrigens kurzzeitig Co-Trainer in Brescia unter Davide Dionigi, die Veroneser nach einem Freistoß aus dem Halbfeld in Führung köpfen, sorgte so für Ekstase im Gästeblock.
Nur wenige Minuten später dann die vermeintliche Entscheidung: Der linke Mittelfeldspieler Aniello Cutolo, die Nummer 10 der Scaligeri, bekommt den Ball vom argentinischen Stürmer Federico Nieto mustergültig vor die Füße gespielt. 
Cutolo ist knappe 7 Meter vor dem gegnerischen Tor, freistehend, alleine vor Spezia-Keeper Santoni; er hat alle Zeit der Welt.
Doch Cutolos Nerven versagen, obwohl er das Tor doch eigentlich unmöglich verfehlen kann – und er schießt rechts am Tor vorbei. 
Fassungslosigkeit bei Veroneser Spielern, Kommentatoren, Fans und Zuschauern. 
Es wäre der riesengroße Schritt zum Klassenerhalt gewesen – doch das Schicksal nahm dann seinen anderweitigen Lauf, wie so oft im calcio.
Zunächst rückte der andere Veroneser Innenverteidiger Marco Turati in den Blickpunkt, ermöglichte mit einem dämlichen Foul den Ausgleich von Spezia per Elfmeter von Davide Saverino, bis dann Guly nur wenige Sekunden vor Schlusspfiff per Sonntagsschuss die ekstatisch bejubelte Führung für Spezia erzielen konnte – der Brasilianer war zuvor nicht als Kunstschütze oder Torjäger aufgefallen, es musste also genau in diesem Spiel so kommen, aus Sicht von Verona.

Mit einer 2-1 Niederlage im Gepäck ging es für Hellas so zurück in die Stadt an der Adige, wo sechs Tage später dann, am 21.06.2007, euphorisierte Bianconeri aus La Spezia empfangen wurden.
Noch war nichts verloren für die Mastini, noch lebte die Hoffnung auf die Zweitklassigkeit. 
Ein Absturz in die Serie C? – Das gab es seit über 60 Jahren nicht mehr, lediglich zu Zeiten des zweiten Weltkrieges (!), ein nahezu unvorstellbarer Gedanke für die stolzen Veroneser, der aber an jenem Tag so realitätsnah wie nie zuvor schien. 
Doch zunächst standen die zweiten 90 Minuten dieses Thrillers an. 
Ein volles Bentegodi, eine grandiose Atmosphäre, wobei nicht nur die curva sud ihren Verein lautstark vor dem Absturz in die Drittklassigkeit bewahren wollte. 
Auch der Gästeblock war randvoll, ein grandioser Rahmen für ein solches Spiel.

Fehlte aus Sicht der Mastini also lediglich das richtige Resultat – und das sollte partout einfach nicht kommen. Die Zustände schienen absurd, die Chancenverwertung grenzte beinahe an Slapstick-Einlagen, nahtlos anknüpfend an Cutolos fatalem Fehlschuss im Hinspiel.
Verona presste, Verona drückte, Verona hatte Chancen en masse; doch der erlösende rete-Schrei von Reporterlegende Roberto Puliero wollte einfach nicht folgen. 
Es schien wie verhext: Spezia sah kein Land, doch hielt die Null, mit sehr viel Glück.
Und stürzte letztendlich die curva sud, das Bentegodi und ganz Verona in ein Tal der Tränen, während vor und in der Spezia-Kurve wild gefeiert wurde. 
Spezia Calcio stieg in der Folge allerdings gerade einmal 12 Monate später selbst in die Drittklassigkeit ab.

Die tifosi von Hellas Verona hingegen dachten, der erstmalige Abstieg in die Drittklassigkeit nach Kriegszeiten sei bereits beinahe der Tod, quasi la morte.
Von wegen. Während Chievo den direkten Wiederaufstieg in die Serie A schaffte, kam es für Verona im ersten Jahr in der drittklassigen Serie C noch bitterer. 
Mit nur 31 Punkten wurde man 17. und somit Vorletzter, lediglich das bessere Torverhältnis rettete die Scaligeri vor dem punktgleichen, direkten Absteiger aus Manfredonia.
In den Play-Outs 2007-08 der Serie C kann sich Verona dann gerade so mit 1-0 und 1-1 gegen Pro Patria durchsetzen – tatsächlich standen die Gialloblu nur wenige Zentimeter davor, aus dem quasi la morte ein einfaches und schlichtes la morte namens Serie D zu schaffen.
Doch es ging gerade so noch einmal gut. 
Im Anschluss mussten die Veroneser allerdings noch drei weitere Saisons in der Drittklassigkeit verharren, immerhin ohne in erneute Abstiegsnöte zu geraten. 
Im Sommer 2010 begann dann die Ära von Andrea Mandorlini, an deren Ende für die Scaligeri aus der Serie C wieder die Serie A geworden war. 
Die Spiele gegen Spezia im Frühsommer 2007 sind in den Köpfen der Fans allerdings für immer verankert. Und so wird das Spiel nicht nur für Spezia-Coach Vincenzo Italiano ein ganz besonderes, wenn er nach 260 Partien für die „richtigen“ Gialloblu erstmalig in sein altes Wohnzimmer zurückkehrt, das er unter Ventura im Winter 2006-07 verlassen musste; sondern auch für die tifosi dell‘Hellas Verona.

tifoso del verona