hvfc – 120 anni e un spritz con Briegel

„Andi – der kommt gleich auch noch.“ Andi? „Andi Brehme.“ Ich muss kurz schlucken. Diese Situation ist surreal für mich, unerwartet und vor allem: absurd. Noch wenige Tage zuvor hätte ich nicht im Entferntesten an eine solche Absurdität zu denken vermocht – doch manchmal kommen Dinge eben anders als man denkt.

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Nicht einmal 48 Stunden nach den Worten oben muss ich erneut schlucken. Und lauthals loslachen. Ich zweifle an meinem eigenen Verstand – nicht nur kurz, nein, vielmehr hinterfrage ich selbigen über mehrere Sekunden. Oder Minuten. Die eingangs geschilderte Situation ist soeben offiziell noch absurder geworden. Ach was, nein – sie ist an Absurdität nicht zu übertreffen. Ernsthaft.

Mein (fast) tägliches Ritual: Ich öffne die Homepage der Veroneser Lokalzeitung L‘Arena. Soweit so gut, nichts besonderes. Ich lese kurz über die Schlagzeilen des Tages: Wintereinbruch und Schneechaos am Monte Baldo, ein Hundekiller in Bovolone. Die Vorauswahl von Verona und seinem Bentegodi als eine der möglichen Spielstätten der Euro 2032, sollte diese in Italien stattfinden.

Soweit, so gut. Ich klicke wie immer auf den Reiter „Hellas Verona“, der sich wie üblich direkt rechts unter dem L‘Arena-Header befindet.

Erneut blicke ich auf verschiedene Schlagzeilen. Auf die Darstellung sämtlicher Szenarien, welche Hellas zum Klassenerhalt in der aktuellen Saison 2022-23 reichen können. Ich sehe ein Interview mit Scaligeri-Verteidiger Giangiacomo Magnani. Ich scrolle weiter nach unten. Und ich fasse es nicht.

Wie üblich sind die Artikel in der Vorschau der Artikel auf L‘Arena bebildert. Und ich kann es nicht glauben – plötzlich erblicke ich mich selbst, wie ich in die Kamera schaue. An meiner einen Seite: Ex-Interista Andreas Brehme, seines Zeichens Weltmeister 1990. Zu meiner Rechten: Hans-Peter Briegel, Vereinslegende von Hellas Verona, bekanntlich Teil der legendären Meistermannschaft 1985. „Brehme (a sinistra) e Briegel (a destra) con un tifoso a Bardolino“, so die Bildunterschrift.

Ich habe keine Ahnung wie dieses Bild dort gelandet ist. Das spielt für mich in diesem Moment aber auch nur eine untergeordnete Rolle – diese absurde Situation ist für mich nicht zu (be-)greifen.

Doch fangen wir von vorne an. Von vorne – das heißt in diesem Falle im März 2022.

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Zum wiederholten Male hatte ich in diesem März 2022 eine Mail geschrieben. Eine Mail an einen der drei deutschen Spieler, die zumindest ein einziges Profispiel für Hellas Verona bestritten hatten. Und damit an den einzigen jener Deutschen, der einen Titel mit den Scaligeri gewinnen konnte – zugegeben: Die Trophäensammlung von Hellas Verona ist sehr überschaubar.

Nur wenige Stunden später hatte ich eine Antwort von Hans-Peter Briegel im Postfach. Samt Entschuldigung – er habe mir auf meinen ersten Kontaktversuch per Mail einige Monate zuvor (damals noch für Hellasblog.de) antworten wollen, es durch einen anstehenden Verona-Besuch allerdings schlicht und ergreifend vergessen.

Kein Problem – nur wenige Tage später habe ich mich mit Briegel telefonisch ausführlich ausgetauscht, ein starkes Interview ist im Kasten und wenige Zeit später auf mentalitacalcio.de zu lesen. Positives Feedback erreicht mich, insbesondere jenes von hellastory.net inklusive deren Verbreitung des Interviews ist insofern ein kleiner Ritterschlag, als dass ich jene Seite seit Jahren quasi täglich zur Recherche und Verifizierung von Zahlen, Daten und Fakten nutze – ein Unikat im Hellas-Universum.

Nur kurze Zeit später wird es allerdings erstmal ruhig um mentalità calcio, weniger als ein Zeit- ist es vielmehr ein anderweitiges Problem: Auch wir bleiben nicht von einer unnötigen Datenschutz-Klage aufgrund der Verwendung von Google Fonts verschont. Also: Erstmal alles offline. Tutti, ausnahmslos. „Gras drüber wachsen lassen und aussitzen“, heißt die Devise.

Schade, sind doch insbesondere von der aktuellsten Reihe #hellasveronastory noch einige mehr oder weniger fertige Stücke im Kasten.

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Drehen wir die Zeit vor: Anfang April 2023. Das 120-jährige Vereinsjubiläum von Hellas Verona steht an. Zu Genüge habe ich die zarten Anfänge des Vereins ausführlich beleuchtet, einzelne Geschehnisse dargestellt und Geschichten erzählt. Eigentlich wäre dieser Anlass die perfekte Gelegenheit für einen weiteren Knaller à la des Interviews mit Briegel wenige Monate zuvor. Ein solches scheint jedoch weit entfernt: Die Homepage ist weiterhin offline sowie ohnehin nicht überarbeitet, vielleicht fehlt inzwischen dann doch auch etwas die Zeit – vielmehr aber sind sämtliche Kontakte des Netzwerkes eingeschlafen.

Ganz und gar nicht eingeschlafen ist hingegen – wenig überraschend – meine Leidenschaft für die Gialloblù. Selbstverständlich kann und werde ich mir daher das Spiel des 120-jährigen Jubiläums nicht entgehen lassen, einmal mehr werde ich somit ein Heimspiel gegen Sassuolo sehen. Das dritte in den letzten Jahren – es gibt spannendere Gegner, nichtsdestotrotz schließt sich für mich ein kleiner Kreis, immerhin war das Vorsaison-Duell gegen Sassuolo der erste Auftritt von mentalità calcio auf einer Pressetribüne in der Serie A. Nette Anekdote.

In den Tagen vor und nach dem Spiel sowie am Spieltag selbst soll es diverse Feierlichkeiten anlässlich des Jubiläums geben. Das gibt der Verein wenige Tage vor dem Spiel bekannt. Ebenso ein limitiertes Sondertrikot. Klingt alles sehr spannend für mich – und so kommt mir eine Idee.

Kurzerhand schreibe ich „il Panzer“ Briegel eine kurze Mail. Wie es ihm ginge, ob er sich noch an mich erinnere. Und: Ob er anlässlich des Vereinsjubiläums beim Spiel gegen Sassuolo zugegen sein werde.

Nur wenige Stunden später habe ich eine Antwort im Posteingang: „Rufen Sie mich sehr gerne kurz an“, antwortet der Europameister von 1980 lapidar.

Gesagt, getan. Er werde beim Spiel sein, ich solle mich doch einfach in den Tagen um das Spiel melden, wir könnten uns dann sehr gerne in seinem früheren Wohnort Bardolino (siehe Interview) am Lago di Garda treffen. Bis Donnerstag nach dem Spiel sei er da.

Klasse. Ich freue mich zu diesem Zeitpunkt enorm. Zunächst einmal auf den anstehenden Südtirol- und Italien-Urlaub, auf dieses so immens wichtige Heimspiel der Mastini gegen Sassuolo. Und natürlich vor allem auf dieses Treffen mit Briegel. Einer Vereinslegende, die in Verona verehrt wird, wie es in Deutschland nur schwer nachzuvollziehen ist.

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Die Saison 2022-23 steht für Hellas Verona unter keinem guten Stern. Erfolgscoach Igor Tudor hat sich in Richtung Marseille verabschiedet, der langjährige Erfolgs-Sportdirektor Tony D‘Amico ist inzwischen in Bergamo tätig. Inzwischen steht mit Marco Zaffaroni der dritte Coach in der laufenden Spielzeit an der Spitze des Teams, seitdem ist ein leichter Aufwärtstrend zu erkennen. Dennoch: Vor diesem Spiel an jenem 08. April 2023, dem Tag der Vereinsgründung 120 Jahre zuvor, hat Hellas als Tabellenachtzehnter nach wie vor sechs Punkte Rückstand auf La Spezia und damit das rettende Ufer. Ein Sieg gegen Sassuolo ist Pflicht, der Klassenerhalt ansonsten in noch weiterer Ferne.

Dennoch mache ich mich (wie immer) mit riesiger Vorfreude auf gen Bentegodi. Beinahe ausverkauftes Haus – die Bars rund um das stadio sind schon Stunden vor dem Spiel pickepackevoll.

Im Stadion werden vor Anpfiff dann einige Legenden begrüßt, unter anderem: Pietro Fanna, Rafael, Luca Toni. Und natürlich: Hans-Peter Briegel. Spieler also, die teilweise völlig unterschiedliche Ären des Vereins prägen konnten.

Dann beginnt das Spiel. Und Verona spielt unterirdisch, eigentlich bereits ab der ersten Sekunde. Der berüchtigten Veroneser curva sud betreibt das Gegenteil: Man feiert sich und den Verein sowie dessen Jubiläum, ohne allerdings auf Protestaktionen gegen den ungeliebten Präsidenten Maurizio Setti zu verzichten. Lautstark, untermalt mit Pyro, Gänsehaut.

Ein ganz anderes Bild auf dem Platz: Sassuolo geht in Führung, Hellas rennt hinterher. Der Klassenerhalt? Nun quasi unmöglich. Verona spielt wirklich unterirdisch.

Doch Innenverteidiger Federico Ceccherini kann in der 83. Minute den Ausgleichstreffer erzielen. Ganz klassisch nach einer Ecke, per Kopf. Dann kommt wieder nur wenig von Hellas. Fünf Minuten Nachspielzeit werden angezeigt – nichts geht. Nachdem bereits vier Minuten und viele Sekunden der selbigen passé sind, bekommt Sassuolo-Keeper Andrea Consigli nach einem Rückpass einige Meter vor dem eigenen Strafraum den Ball. Er muss ihn nur wegschlagen, dann würde der Abpfiff kommen. Ein Remis – zu wenig für Hellas, das weiß jeder im Stadion.

Offensichtlich auch Consigli – er spielt den Ball völlig unbedrängt Hellas-Stürmer Adolfo Gaich in seiner Füße. Der Argentinier, seit Monaten ohne Torerfolg, zieht aus knapp 45 Metern ab – der Ball senkt sich in Minute 95 über Consigli ins Tor, es ist Gaichs erster Treffer überhaupt für die Scaligeri.

Unfassbare Ekstase auf und neben dem Platz. Ich komme 25 Meter weiter rechts fernab meines eigentlichen Platzes zu mir, würde auch zwei weitere Tage keine Stimme von dieser Jubelarie haben.

Unglaublich, aber wahr: Hellas Verona spielt wie ein Absteiger und gewinnt trotzdem. Passender könnte ein Vereinsjubiläum wohl nicht gefeiert werden. Zumindest keines von Hellas Verona.

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Wenige Tage nach dem Spiel bin ich in Bardolino. Ich bin aufgeregt, durchaus nervös. Das muss ich zugeben – man trifft nicht täglich Vereinslegenden, insbesondere nicht solche, die im Ausland zu eben solchen Legenden wurden. Und noch viel weniger Akteure, die Legenden bei Hellas Verona wurden.

Tags zuvor habe ich mich mit Briegel telefonisch an seinem Hotel in Bardolino für den Folgenachmittag verabredet. Es ist wenige Minuten vor 15.00 Uhr, bei bestem italienischen Frühlingswetter habe ich mir an der Strandpromenade noch einen Veneziano gegönnt und befinde mich nun auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt.

Ich laufe durch die Altstadt von Bardolino, komme um die Ecke einer kleinen Straße – und plötzlich steht die „Walz von der Pfalz“ vor mir. „Hallo Herr Briegel…“ Ich gebe ihm die Hand. „Guten Tag, Sie sind…?“

Es stellt sich heraus: Während unseres Telefonats war Briegel auf einem vom Verein organisierten Fanclubtreffen, er hat aufgrund eines weiteren Termines an diesem Abend unser Treffen schlicht und ergreifend vergessen. Briegel ist diese Tatsache sichtlich peinlich, er entschuldigt sich mehrfach – wir setzen uns in die Sonne in den Außenbereichs eines Cafés, in welchem er eigentlich ohnehin mit einigen anderen Personen verabredet war, die meine für sie überraschende Anwesenheit mit Briegel am Nebentisch allerdings gänzlich mit italienischer Gelassenheit quittieren.

„Andi – der kommt gleich auch noch“, sagt Briegel zur Einleitung.

„Ich habe ihm damals Bardolino gezeigt, zwischenzeitlich wohnt er hier locker die Hälfte des Jahres“, erklärt Briegel, „Von München ist das ja ein Katzensprung hierher. Ich sage immer: Du musst zwei Mal bremsen, wenn du aus München kommst und hierher fährst. Einmal in Sterzing, einmal in Affi. Und dann bist du da“

Er bestellt uns zwei Aperol Spritz in akzentfreiem Italienisch und wir beginnen zu sprechen. Über Gott und die Welt, über Hellas Verona und den FCK. Über aktuelle Themen, auch abseits des Fußballs.

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Briegel bietet mir das „Du“ an, beziehungsweise beschließt er: „Wir sind per Du.“ Für mich zuerst ungewohnt, auch im weiteren Gesprächsverlauf, auf welchen ich in den folgenden Textpassagen eingehen werde. Zunächst hatte ich noch meinen Recorder mitlaufen, alsbald stellte ich selbigen aus, da sich eine sehr angenehme und flüssige Gesprächsdynamik entwickelte.

Vor dem Gespräch hatte ich mir einen kleinen Leitfaden überlegt, dieser spielt dann eigentlich zu keinem Zeitpunkt des Gesprächs eine Rolle.

Briegel steigt direkt in das Gespräch ein: „Du bist jetzt also von Südtirol extra hierhergefahren? Was machst du dort, Urlaub?“ Nachdem ich beide Fragen bejaht habe, erzählt mir Briegel, dass er die Gegend um den Kalterer See hervorragend kenne: „Ich war sehr oft zu Besuch in Tramin bei meinem Freund Domenico Volpati. Eine wunderschöne Gegend. Der hat dort als Zahnarzt gearbeitet. Hat vor fünf Jahren aufgehört – aber ja, der hat die Südtiroler mit ihrem Dialekt nichtmal verstanden.“ (lacht).

Volpati war ebenfalls Bestandteil der Veroneser Meistermannscahaft von 1985, brachte es insgesamt auf 165 Spiele in Gialloblù inklusive zweier verlorener Pokalfinale.

Ich steige ins Gespräch ein mit dem vergangenen Spiel gegen Sassuolo im Rahmen der Feierlichkeiten zum 120-jährigen Vereinsjubiläum.

mentalità calcio: „Ich bin am Samstag ins Stadion gekommen, da warst du gerade mit Luca Toni auf der Leinwand zu sehen. Die Standing Ovations waren beeindruckend, der Applaus war ohrenbetäubend. Was ist das für ein Gefühl für dich, wenn du da in Verona ins Stadion läufst? Wie ist das in Lautern?“

Briegel: „Naja, in Lautern ist es anders. Die Deutschen sind anders (lacht). Wenn du zum 14. Mal Meister geworden bist, wie der Andi Brehme damals mit Inter, dann erinnern sich die Leute nicht so an dich, wie wenn du zum ersten Mal Meister geworden bist, wie damals Verona.

Und klar, der Luca Toni, der war auch ein ganz spezieller Spieler. Der hat immer Tore gemacht, Torschützenkönig bei Hellas Verona.

Ich war gestern auch nochmal bei einem Fanclubtreffen, da haben die mich auch fünf Stunden besungen, mich gefeiert. Ich bin eigentlich nicht so der Typ dafür, ich stehe da nicht so gerne im Rampenlicht. Auch im Fernsehen, das habe ich zwar manchmal früher gemacht und mache es auch heute noch ab und zu – aber es ist nicht mein Ding. Es freut mich natürlich trotzdem, dass die Leute mich heute noch kennen und sich noch immer freuen, mich zu sehen.“

mc: „Du hattest letztes Mal schon erwähnt, dass es da diese Fanclubtreffen gibt. Organisiert die der Verein Hellas Verona oder wie kann ich mir das vorstellen?“

B: „Im Endeffekt ruft mich einer vom Verein an und sagt: Kannst du dann und wann dorthin kommen – gestern war das dann in Costermano, das ist bei Garda da oben – und dann ruft jemand vom Verein an… ach, da kommt er ja…“

Brehme ist eingetroffen, grüßt uns kurz und setzt sich an den Nebentisch.

B: „Also, da ruft jemand vom Verein an und fragt dann ob ich Lust habe. Und ja, oft mache ich das und bleibe für einige Tage hier. Treffe Leute oder besuche Freunde, die krank sind. Das mache ich eigentlich meistens. So organisiert das der Verein normal, so ist es auch dieses Mal. Morgen ist dann ja noch diese große Gala (Anm. d. Red.: Anlässlich des 120. Jubiläums), da kommen dann 500 oder 600 Leute. Die müssen allerdings alle 150 Euro zahlen und der Eintritt fließt an einen guten Zweck.

Ich bin in vierzehn Tagen sogar schon wieder hier, dann aber zum Urlauben. Denn das war jetzt schon stressig, heute ist der erste Tag, an dem ich es etwas ruhiger habe. Heute Abend treffe ich mich noch mit einigen früheren Mitspielern, und ja: morgen gehts dann halt wieder ab. Und am Donnerstag fliege ich wieder heim.“

mc: „Also gibt es anlässlich des Vereinsjubiläums „nur“ noch die Gala morgen?“

B: „Ja, es sind aber sehr viele alte Spieler da. Penzo, der war auch mal Hellas-Torjäger. Luca Toni. Rafael, der Torwart, der hat ja neun Jahre hier gespielt. Morgen sind aber noch mehr dabei. Von der Meistermannschaft sind es allerdings nur  fünf. Einer ist ja leider gestorben, Torwart Garella. Manche sind nicht mehr so fit, können nicht mehr kommen. In dem Alter ist das leider so. Das 40. Jubiläum des Scudetto wollen sie feiern, ich weiß aber gar nicht mal, ob ich da noch „da“ bin. Ist halt leider so.“

mc: „Im letzten Interview meintest du, dass Coach Osvaldo Bagnoli vor deiner Verpflichtung meinte, du solltest auf keinen Fall nach Bardolino ziehen, da es hier m Winter verweist sei. Du hast dort neben Preben Elkjær gewohnt – jetzt und heute hier im Hotel. Bist du auf deine Initiative wieder in Bardolino oder hat der Verein das Hotel ausgesucht?“ 

B: „Der Verein hat mir nach meinem Wechsel zunächst ein Hotel zur Verfügung gestellt. Damals habe ich noch kein Italienisch gesprochen. Und genau in diesem Hotel bin ich jetzt wieder. Eigentlich immer wenn ich hier bin. Die hatten früher, auch als ich hier dann fest gewohnt habe, auch noch ein Restaurant im Hotel. Das gibt es leider nicht mehr, aber ich gehe jetzt noch immer dorthin. Den Besitzer kenne ich daher sehr gut, seit den 80ern. Der hat mich auch vom Flughafen abgeholt und fährt mich wieder hin.

Generell muss ich mich hier eigentlich um nichts kümmern. Morgen zum Beispiel: Da holt mich ein alter Freund ab und wir fahren gemeinsam erst zu Trainer Bagnoli. Der ist leider an Alzheimer erkrankt, ich will ihn aber unbedingt sehen. Und danach gehts dann zur Gala.“

Wir schweifen kurz vom Thema ab. Es geht um italienische Wetterphänomene und kleine Dörfer in der Südpfalz. Bis ich den Faden wieder aufnehme. 

mc: „Worüber wir letztes Mal nicht gesprochen hatten. Fünf Jahre nach dem Scudetto ist Verona wieder abgestiegen. Hast du das damals dann noch verfolgt oder hattest du inzwischen eine gewisse Distanz nach deiner Zeit in Genua sowie der darauffolgenden Zeit in der Schweiz?“

B: „Ich war damals immer noch jedes Jahr einmal da. Heute sehe ich so gut wie alle Spiele im TV an, damals war das nicht so einfach. Und Hellas war später jahrelang in der dritten Liga. Da ging das nicht, das habe ich dann nur am Rande verfolgt. Aber Anfang der 90er konnte ich das ohnehin nur im Kicker oder so lesen, einen Absatz, oder so. Mehr war da nicht.“

mc: „Zu deiner Zeit haben noch einige weitere Deutsche in der Serie A gespielt: Hansi Müller, Kalle Rummenigge, Matthäus, Völler, Brehme. Hat man da einen gemeinsamen Draht gehabt, hat man sich gesehen oder regelmäßig ausgetauscht?“

B (nickt rüber zu Brehme): „Er, er kam nach mir. Ich glaube, er ist 88 gekommen. Da bin ich gerade weg nach Genua.

Wir haben uns oft telefonisch ausgetauscht, oft auch getroffen. Das ging ganz einfach alles. Mit Hansi Müller hatte ich auch viel Kontakt, gerade als er in Como war.“

mc: „Bei Hellas hingegen gab es in der Vereinsgeschichte bis heute lediglich drei Deutsche. Neben Ihnen und Koray Günter, der gerade an Sampdoria verliehen ist,…“

B: „Der macht genau die gleiche Scheiße wie ich damals! (lacht)

Nein im Ernst, das war halt ganz anders, ich war einer der Ältesten in einer jungen Mannschaft bei Samp, wir sind Pokalsieger geworden. Das war eine gute Mannschaft, der Zusammenhalt war aber nicht wie in Verona. Einfach eine andere Generation: Die waren alle locker zehn Jahre jünger als ich.“

mc: „Jetzt in den letzten Jahren hat Hellas allerdings immer mal wieder Spieler aus der Bundesliga geholt. Ich weiß, professionelles Scouting und so weiter – aber ist das dann manchmal so, dass die dich anrufen und nach einer kurzen Einschätzung fragen?“ 

B: „Nein, Setti nicht. Ich habe schon immer mal wieder Spieler angeboten, aber da kam nie eine Antwort. Setti hat mich allerdings mal gebeten, vor einigen Jahren oder so, gegen Sampdoria, dass ich zum Spiel komme und auch in die Kabine gehe. Da sollte ich dann mit Trainer und Mannschaft reden, weil der immer so nervös war. Ich weiß seinen Namen gar nicht mehr, das war allerdings einige Zeit vor Juric. Aber immerhin hat Verona 2-0 gewonnen. Meine Ansprache hat also bei allen gewirkt.“ (lacht)

mc: „Allgemein ist Setti nicht unbedingt der beliebteste Präsident im Vereinsumfeld…“

B: „Da haben wir gestern auch beim Fanclubtreffen drüber geredet. Und ich sage dir: Es will keiner in den Verein investieren. Ohne Setti wären die immer noch in der dritten Liga. Oder in der vierten.

Es ist ein einfaches Geschäft: Er hat den Verein gekauft, ich glaube für fünf Millionen oder so. Jetzt will er ihn verkaufen – habe ich zumindest gehört – für 100 Millionen.

Er hat letztes Jahr Barak, Simeone, Caprari verkauft. Da haben alle gesagt: „Unter Wert verkauft.“ Klar, ja, aber der will Geld verdienen. In Italien wollen alle Präsidenten Geld verdienen. Das sind Investoren, die wollen eben einfach nur Geld verdienen. Und das haben manche Fans hier in Italien nicht kapiert. Das ist genau gleich wie in England.

Was ich nicht gut finde: Er besitzt zwei Vereine. Neben Verona hat er noch Mantova – das verstehe ich nicht.“

mc: „Am Samstag gegen Sassuolo gab es wieder Spruchbänder gegen Setti.“

B: „Ja, da hatte ich es dann mit Marroccu (Anm.: Ex-Verona-Sportdirektor, zu diesem Zeitpunkt bereits zum Technischen Direktor degradiert). Ich fragte ihn, warum die sowas machen. Er antwortete nur: „Weil die nichts kapieren.“

Marroccu, der wurde ja auch irgendwie auf die Seite geschoben. Aber der ist immer noch da. Der hätte entlassen werden können, aber er ist immer noch da. Trotz der Kritik.

Die Fans, bei denen ich gestern war, die sehen es genauso wie ich. Grundsätzlich fange ich solche Themen nie auf einem Fanclubtreffen an. Meistens wollen die aber darüber reden. Die halten sich halt im Hintergrund, aber nur ein kleiner Bruchteil der curva will Setti nicht haben.

Das ist wie in Lautern. Wir benötigen Investoren. Ohne die wären wir bereits weg. Und jetzt haben wir wieder einen Schnitt von 41.000 Zuschauern in Lautern. Und die Fans aus Verona und Lautern besuchen sich wieder gegenseitig. Das ist alles verrückt. Grade wenn wir Lautern betrachten, was für Probleme wir auch während Corona hatten. Aber wir reden ja über Verona…“ (lacht)

mc: „Nochmal zurück zum dritten deutschen Spieler, der für Hellas Verona spielte: Thomas Berthold. Der ist in der deutschen Öffentlichkeit bekanntlich zur persona non grata geworden…“

B: „Corona, genau.“

mc: „Bis zur Pandemie ist Berthold auch in den Veroneser Stadionneubau involviert gewesen. Hast du über diesen Neubau mal irgendwas gehört? Bis auf Wasserstandsmeldungen gab und gibt es da eigentlich gar keine Neuigkeiten.“

B: „Dass er involviert war, habe ich auch gehört. Er hat die Pläne mit entworfen, hieß es. Aber ich habe mit Thomas derzeit keine Verbindung. Der ist aus Deutschland weg, ist in der Schweiz. Der hat seine Meinung kräftig vertreten, wollte dann machen was er will.“

Wir schweifen kurz vom Thema ab und sprechen über die Pandemie. Dann bestellt Briegel den nächsten Aperol für uns. Wir kommen zurück zum calcio und reißen nochmal das Thema Kaiserslautern an.

B: „Die Euphorie ist grandios. Für uns geht es um nichts mehr, wir spielen noch nicht mal um den Aufstieg. Und trotzdem ist das Stadion immer voll. Die ganze Pfalz steht hinter dem Verein, das Saarland, Teile des Elsass. Alles FCK.“

Wir kommen zurück zu Verona.

mc: „Wie beurteilst du denn die aktuelle sportliche Entwicklung bei Hellas? Wir haben vor elf Monaten letztmals geredet, da war noch alles super, es ging unter Trainer Tudor steil nach oben. Jetzt elf Monate und drei Trainer später sieht es anders aus. Wo führt es hin?“

B: „In Verona wird es immer so sein – sagen wir so: Solange Leute wie Setti da sind, die Spieler holen, die weniger wert sind, um dann gewinnbringend verkauft zu werden – da kannst du schnell auch wieder in der zweiten Liga landen. Oder in der dritten.

Leider – nun gut, was heißt leider; manchmal auch: Gott sei Dank – hast du Leute, die das eben so machen, die Investoren sind. Die eine hohe Anzahl der Anteile halten. Langfristig kann man hier nichts planen, wir können in Verona nicht über „Langfristigkeit“ sprechen. Aber auch bei anderen Vereinen nicht.

Bei Genoa CFC hingegen, die einen neuen Investor haben, sieht es anders aus. Die werden nächstes Jahr (Anm.: 2023-24) eine gute Rolle spielen, wenn sie in die Serie A aufsteigen. Die haben Leute, wo halt viel Kohle dahinter steckt. Von Alexander Blessin haben sie dort allerdings nicht viel gehalten…“

mc: „Was siehst du denn für Parallelen auf emotionaler Ebene zwischen dem FCK und Hellas?“

B: „Es gibt die deutsche und die italienische Mentalität. Man kann es einfach nicht vergleichen. Ich habe mit Lautern auch keinen Meistertitel geholt, habe dort leider gar keinen Titel gewonnen. Der Titel hier bleibt halt für die Ewigkeit. Seien wir ehrlich: Der Titel wird wohl in absehbarer Zukunft auch der einzige für Verona bleiben.

In Lautern bin ich inzwischen wieder im Verein tätig. In der Pfalz habe ich auch ein gewisses Standing – aber in Verona werde ich verehrt. Wie gesagt, der Scudetto ist für die Ewigkeit.“

mc: „Zum Schluss – wie schon beim letzten Interview – eine kleine Abschlussfrage: Wer holt zuerst wieder einen Titel: Verona oder Lautern?“ (lacht)

B: „Beide im gleichen Jahr!“ (lacht)

In der Folge schalte ich den Recorder wieder aus. Wir sprechen noch eine längere Zeit, trinken weiterhin Aperol. Am Nebentisch unterhält sich Brehme angeregt mit seinen Begleitern, es bleibt weiterhin eine surreale Situation für mich.

Briegel spricht die absurde Pay TV-Situation mit „hunderten Abos“ an. Wir reden über seine Zeit als albanischer Nationaltrainer, natürlich bleibt hierbei nicht unerwähnt, dass Briegel den frischgebackenen Europameister Otto Rehagel und seine Griechen schlug. Ich hake nach, ob es nie eine Möglichkeit gegeben hätte, die Gialloblù zu coachen.  Briegel entgegnet dem, es habe vor vielen Jahren eine Anfrage von Hellas Verona gegeben. Hierbei sei es allerdings lediglich um einen Posten als Co-Trainer gegangen, was für den Pfälzer damals nicht in Frage kam.

Das Gespräch neigt sich dem Ende zu. „Il Panzer“ muss weiter in Richtung Lazise, ein Abendessen mit einigen früheren Mannschaftskollegen der legendären Meistermannschaft von 1985 steht an. Eine Zeit, die Briegel nicht vergessen wird. Eine Zeit, die auch die Veroneser tifosi nicht vergessen werden.

Für mich hingegen ist klar: Diesen Nachmittag in Bardolino werde ich kaum vergessen. Ich lasse mir noch Hellas Verona-Bücher sowie zwei Trikots signieren, ein Foto wird von uns geschossen – völlig euphorisiert trete ich die Rückfahrt gen Norden an.

Noch viele Stunden später mutet sich mir der vergangene Nachmittag beinahe abstrus an – ein Umstand, der sich bekanntlich nicht ändern würde, als ich kurz darauf später die Homepage der Lokalzeitung L‘Arena öffne…

tifoso del verona