„Wenn das kein sportliches Wunder ist – was soll sonst eines sein?“ – Eine rhetorische Frage, gestellt durch „Vize“-Coach Salvatore Bocchetti auf dessen Instagram-Account, wenige Stunden nach dem Veroneser Erfolg im Entscheidungsspiel gegen La Spezia. Ja, man könnte die Aufholjagd der vergangenen Monate von Hellas Verona durchaus als „sportliches Wunder“ betiteln, als „unfassbar“, als „einmalig“, als „wunderbar“ – realistisch vielleicht aber auch als eine „logische Entwicklung“ der vergangenen 12, 18, 24 oder 36 Monate. Tatsächlich gar als logische Entwicklung eines ganzen vergangenen Jahrzehnts – oft genug haben wir über die Ära Setti und dessen Entscheidungen sowie deren Tragweite geredet und geschrieben. Daher widmet sich mentalità calcio hier und heute diversen „Eckpunkten“ der vergangenen Saison. „Eckpunkte“, „Meilensteine“, wie auch immer man es nennen vermag: Wichtige Daten, Entscheidungen und Entwicklungen, die das „Wunder“ als ein solches vielleicht sogar ganz entzaubern – das soll der Lesende gerne für sich selbst bewerten und beantworten.
Teil 1 – Die erste Saisonhälfte
28.05.2022 – Igor Tudor verkündet seinen Abschied
Nach einem sehr holprigen Beginn unter Eusebio Di Francesco in der ersten Saison nach Ivan Juric kann Nachfolger Igor Tudor Hellas Verona 2021-22 zu einem äußerst respektablen 9. Platz führen. Siege gegen Juventus, Lazio und Roma lassen Verona zeitweise vom europäischen Fußball träumen – die Vorstellungen von Tudor und Präsident Maurizio Setti liegen im Anschluss an die Saison allerdings so weit auseinander, dass man gar nicht erst in wirkliche Verhandlungen tritt.
Udinese-Coach Gabriele Cioffi wird der Nachfolger von Tudor. Ein Trainer, der – zumindest ähnliche – Vorstellungen und Spielideen mit nach Verona bringt.
30.05.2022 – Tony D’Amico wechselt nach Bergamo
Die Spatzen pfiffen es seit Wochen von den Dächern: Der langjährige Verona-Sportdirektor Tony D’Amico, seit 2016 zunächst als Leiter der Scouting-Abteilung sowie anschließend seit 2018 als Sportdirektor der Scaligeri tätig, verkündet ebenfalls seinen Abschied. D’Amico galt als eine Art Zauberer, hatte er es doch über Jahre geschafft, vermeintlich abgeschriebene Spieler ebenso wie Jungspieler mit Potenzial zu verpflichten – sehr, sehr viele jener Spieler schlugen in Verona gnadenlos ein: Giovanni Simeone, Antonin Barak, Matteo Lovato. Die Liste mit voller Bandbreite ließe sich noch beliebig fortführen. D’Amico hatte es in Personalunion mit Juric geschafft, dass Verona trotz aller Widrigkeiten (Budget, Spielerfluktuation, wenig investitionsfreudiger Präsident) inzwischen als Erstligist (wieder) etabliert war.
Lediglich mit der Verpflichtung von Eusebio Di Francesco als direkten Juric-Nachfolger lag D’Amico komplett daneben – allerdings war er auch hier so smart, dass er seinen Fehler nach nur wenigen Tagen mit Erfolg revidierte.
Nachfolger wird der bisherige Technische Direktor von Brescia Calcio: Francesco Marroccu. Der Sarde konnte bei seinen bisherigen Stationen, unter anderem in seinem Geburtsort Cagliari sowie in Brescia, nicht unbedingt mit Kontinuität und jenen „Riecher“-Eigenschaften von D’Amico glänzen. Er wird vom Fanumfeld ab der ersten Stunde genaustens beobachtet – jede Handlung, jede Aussage wird kritisch hinterfragt.
Die Fans sehen in ihm die „billige“ Nachfolgelösung für D’Amico – und damit eine Verpflichtung, die nicht aus sportlichen Gesichtspunkten (Stichwort: Kompetenzen) getroffen wurde, sondern lediglich die günstigste und daher wirtschaftlich reizvollste für Setti sein soll. Vorwürfe und Vorurteile, die sich zumindest teilweise im Laufe der kommenden Monate bewahrheiten werden.
04.09.2022 – Der erste Saisonsieg: 2-1 gegen Sampdoria
Der Saisonauftakt verläuft ernüchternd. Tatsächlich noch ernüchternder als von vielen erwartet. Als im ersten Saisonspiel Serie B-Aufsteiger Bari ins Bentegodi kommt, ahnen die gelbblauen Zuschauer noch nicht, was folgen würde: Eine Veroneser Bankrotterklärung, eine Vorführung der gesamten Mannschaft, die in eine 1-4 Heimniederlage mündet – inklusive eines Hattricks von Bari-Stürmer Walid Cheddira, der noch in der Vorsaison sechs Trefferchen in der drittklassigen Serie C erzielen konnte.
Auch in der Serie A steht man nach vier Spieltagen mit mageren zwei Pünktchen da: Den beiden Punktgewinnen in Bologna (1-1) und in Empoli (1-1) stehen zwei Niederlagen gegen Napoli (2-5) und Atalanta (0-1) gegenüber. Am fünften Spieltag kommt Sampdoria ins Bentegodi und es gelingt ein verdienter 2-1 Heimsieg, in einem Spiel mit verrückten fünf, sechs Minuten vor der Halbzeitpause: Zunächst gehen die Gäste aus Genua in Führung, nur wenige Minuten später fälscht Samp-Keeper Audero einen Kopfball von Verona-Stürmer Thomas Henry ins eigene Tor ab – bevor die schottische Neuentdeckung, Sommertransfer Josh Doig, in der Nachspielzeit von Halbzeit eins das letztendlich entscheidende Siegtor erzielen sollte. Es kommt etwas Hoffnung auf: Fünf Punkte aus fünf Spielen, vielleicht geht da doch was in dieser Saison. Noch weiß man da nicht, dass der Gegner an jenem 04.09. eine noch weniger wettbewerbsfähige Saison als alle anderen Mannschaften da unten drin spielen würde.
Tabelle – 5. Spieltag: 13. Hellas Verona – 5 Punkte – 3 Punkte Vorsprung auf den Abstiegsplatz
11.10.2022 – Gabriele Cioffi muss gehen. Nachfolger wird Salvatore Bocchetti.
Es folgen vier Niederlagen gegen Lazio (0-2), Fiorentina (0-2), Udine (1-2) und Salernitana (1-2) – letztere lässt Setti und Marroccu die Reißlinie ziehen. Tatsächlich sieht man keinerlei Entwicklung in der Mannschaft. Die Resultate sind nicht so deutlich wie es die Niederlagen tatsächlich sind, man weiß: Spiele wie gegen Salernitana müssen gewonnen werden. Sonst gehen ganz schnell die Serie A-Lichter in Verona aus.
Nur wenige Tage später wird Cioffis Nachfolger präsentiert: Es ist Ex-Hellas-Kapitän Salvatore Bocchetti, der zuvor als Trainer in Veronas U18 und U19 durchaus Talent aufblitzen lassen konnte, dessen Erfahrungen sich als Coach im Profifußball bislang allerdings auf einige Monate als Co-Trainer unter Igor Tudor beschränkten. Eine mutige Entscheidung. Es ist zu jenem Zeitpunkt durchaus unklar, ob wirtschaftliche Aspekte das ausschlaggebende Kriterium für Bocchettis Ernennung sind – oder ob ein langfristiger Plan dahintersteckt. Bocchetti trainiert aufgrund fehlender Lizenzen zunächst mit Ausnahmegenehmigung – eigentlich ein Indiz dafür, dass er tatsächlich nur als „Caretaker“ vorgesehen ist. Eigentlich, denn: Die weiteren Geschehnisse lassen durchaus weiteren Interpretationsspielraum zu. Ebenso die langjährige Vertragslaufzeit.
Noch sind es sechs Spieltage bis zur WM-Pause Mitte November – Bocchetti hat also Zeit sich zu beweisen.
Tabelle – 9. Spieltag: 18. Hellas Verona – 5 Punkte – 2 Punkte Rückstand auf einen Nichtabstiegsplatz
17.11.2022 – Die Demission des Francesco M. – und eine spezielle Rückkehr
Doch der Effekt von Bocchettis Übernahme, ob als langfristige oder kurzfristige Alternative angedacht, ist non-existent. Hellas verliert nach der folgenreichen Niederlage gegen Salernitana auch die folgenden sechs Partien gegen Milan (1-2), Saussolo (1-2), Roma (1-3), Monza (0-2), Juventus (0-1) und La Spezia (1-2).
Das La Spezia-Spiel ist das letzte vor der folgenden WM-Pause, gleichbedeutend mit der 10. Niederlage in Folge für die Mastini. Verona ist auf dem letzten Tabellenplatz angekommen, man scheint Lichtjahre entfernt zu sein von einem Klassenerhalt – die Leistungen sind teilweise unterirdisch. Neuzugänge wie Thomas Henry, Roberto Piccoli, Ajdin Hrustic oder Milan Djuric können die Abgänge von Barak und Simeone wenig überraschend nur selten bis eigentlich gar nie kompensieren, immerhin stechen der junge Schotte Josh Doig sowie der schwedische Innenverteidiger Isak Hien immer wieder positiv hervor, insgesamt fällt das Fazit der Sommertransferperiode zur langen Winter-WM-Pause allerdings sehr negativ aus.
Auch die Trainer-Entscheidungen (Cioffi, Bocchetti) können ob der gezeigten Leistungen dieses Gesamtbild nicht aufhübschen – so ist die Kritik im Umfeld zwischenzeitlich lauter als je zuvor. Zu wenig hatte man in den vergangenen Jahren mit dem Abstieg zu tun, im Endeffekt schien „endlich“ das für viele Fans Unvermeidbare einzutreffen, solange „persona non grata“ Setti das Zepter in Verona schwang.
Und jener Maurizio Setti brauchte nun schnell einen Befreiungsschlag: Einen Befreiungsschlag, der das Eingestehen eines eigenen Fehlers (oder mehreren) zumindest suggerierte und gleichzeitig das unruhige Fanumfeld besänftigte. Die Folge: Francesco Marroccu wurde vom Sportdirektor zum Technischen Direktor „degradiert“, raus aus der Öffentlichkeit, weg vom teilweise horrenden Druck der Veroneser Fans. In eine Position, die ihn von vorherigen Entscheidungskompetenzen quasi völlig entband – und somit in eine Lage, die es Setti ermöglichte, sich ungemütlichen Fragen des Ex-Sportdirektors selbst sowie auch von Seiten des Vereinsumfelds zu entledigen – quasi ein „Bauernopfer“, das keines war, oder vielleicht auch vielmehr ein richtiges „Opfer“, welches so eben nur teilweise zum „Opfer“ wurde.
Wie auch immer man es beschreiben und nennen mag – Setti, seit jeher ein „Fuchs“, wie auch der italienischen Guardia di Finanza bekannt, erinnerte sich an einen alten Bekannten, der im Veroneser Umfeld in ziemlich guter Erinnerung geblieben war – und gleichzeitig, natürlich, nicht allzu viel kosten würde, war er doch genau jetzt erwerbslos: Ex-Verona-Sportdirektor Sean Sogliano.
Sogliano steht für eine der erfolgreichsten Zeiten der Gialloblù in diesem Jahrhundert, war er doch bereits zwischen 2012 und 2015 Sportdirektor von Hellas Verona, führte hierbei den Verein gemeinsam mit der Veroneser Trainerlegende Andrea Mandorlini von der Serie B in die Serie A, man konnte so als Aufsteiger 2013-14 sogar 10. In der Abschlusstabelle werden – die erfolgreichsten Zeiten bis zur Ära Juric/Tudor – D’Amico.
Der gebürtige Piemonteser bewies im Rahmen dessen hervorragendes Verhandlungsgeschick und -gespür, sorgte für Transfercoups wie die Verpflichtungen von Luca Toni oder Juan Iturbe, der noch heute einer der Rekordabgänge der Vereinsgeschichte ist – eingefädelt von Sogliano. Dessen Ansehen stieg damals immer weiter, er wurde mit den großen Teams des italienischen Fußballs in Verbindung gebracht – bis er den Verein Ende der Saison 2014-15 verließ, unter bis heute undurchsichtigen Umständen. Unstimmigkeiten mit Präsident Setti kamen zu Tage, die Veroneser Fans hielten zum (Ex-)Sportdirektor, zahlreiche Spruchbänder und Protestaktionen folgten.
Settis geringe Investitions- und Risikofreude bei gleichzeitig eigener Intention zur Gewinnmaximierung soll der Trennungsgrund von Sogliano gewesen sein – eine bekanntlich bis heute immer wieder aktuelle Diskussion in Verona.
Jedenfalls wird Sean Sogliano am 17.11.2022 als neuer alter Sportdirektor vorgestellt – Marroccu im selben Zuge als Technischer Direktor degradiert. Sogliano soll die Fehler seines Vorgängers ausmerzen, gleichzeitig Setti so trotz der katastrophalen sportlichen Situation „entlasten“ – und ganz nebenbei den in weite Ferne gerückten Klassenerhalt packen.
Eigentlich eine missione impossibile in Anbetracht der Umstände und Rahmenbedingungen… Doch zunächst geht es in die wochenlange WM-Pause. Zeit zum Krafttanken für die Veroneser. Zeit zum Nachdenken. Und Zeit zum Handeln: Sogliano entscheidet sich dazu, dem teilweise hilflos wirkenden Salvatore Bocchetti mit Marco Zaffaroni einen erfahrenen Trainer zur Seite zu stellen. Der gebürtige Mailänder verfügt über jahrelange Trainer-Erfahrung, allerdings nicht in der Serie A – die Spielphilosophien könnten allerdings übereinstimmen, für Jubelstürme sorgt die Personalie in Verona zu jenem Zeitpunkt der Verkündung am 03. Dezember allerdings noch nicht…
Fortsetzung folgt.
Tabelle – 15. Spieltag: 20. Hellas Verona – 5 Punkte – 8 Punkte Rückstand auf einen Nichtabstiegsplatz.
Eine Antwort zu „hvfc – saison 2022-23 – un miracolo? #1“
[…] Sogliano und Coach Zaffaroni steht in diesem Dezember vor einer brutalen Aufgabe, wie im ersten Teil zu lesen war. Man muss eine Mannschaft, deren Moral nach zehn Niederlagen in Folge komplett am Boden ist; […]